Ich habe in meiner Kindheit schon seit dem frühen Kleinkindalter sexualisierte Gewalt und Übergriffe erlebt. Lange war es mir nicht bewusst, weil es so normal für mich war, weil es dazu gehörte. Ich bin in einem von Alkoholismus und psychischer Krankheit emotional betäubten Umfeld groß geworden, mit Erwachsenen, die kein Gespür für Grenzen hatten.
So lernte ich meine eigenen Grenzen nicht kennen, ich lernte im Gegenteil, daß Grenzen für andere sind, aber nicht für mich. Ich selbst lernte, grenzenlos loyal zu sein, kein eigenes Leben zu beanspruchen. Ich lernte mich einzufühlen in die Bedürfnisse anderer. Ich lernte, daß ich dafür lebe, anderen ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Das machte mich auch zu einem "ganz besonderen magischen Wesen", zu einer Art Heilerin. Meine Hellfühligkeit prägte sich dadurch sehr stark aus, ein Schutzmechanismus, ein Frühwarnsystem, die Bedürfnisse frühzeitig zu erkennen und auf sie einzugehen. Wenn keine Erwachsenen da sind, die mich schützen, so mußte ich selbst Strategien entwickeln. Ich lernte, daß die Welt da draußen gefährlich ist und ich ständig mit bösen Überraschungen rechnen muß, denen ich möglichst zuvor kommen sollte.
Auf dem Weg meine Grenzen zu verstehen und zu reparieren, war es vor allem wichtig zu erkennen, wie ich auf Entgrenzung programmiert wurde und diese erlebte Normalität schonungslos in Zweifel zu ziehen. Es war wichtig zu erkennen, daß auch ich Grenzen haben darf. Es war ein langer, nebliger Weg, voller dunkler Fallen. Wo überall in meinem Leben habe ich Mißbrauch zugelassen und auch unbewusst eingeladen.
Es ist mein Lebensweg. Mein Lebensthema. Nichts, was mal eben abgehakt ist. Ich gehe damit täglich. Ja, es befähigt mich inzwischen, andere durch die Dunkelheit zu begleiten. Nur jetzt nicht mehr, weil es ein Automatismus ist, sondern, weil ich eine lange Ausbildung darin habe - street credibility sozusagen - und inzwischen weiß, wer ich bin und weiß, daß es Menschen braucht, die ihre eigene Dunkelheit gemeistert haben, um auch für andere Licht hineinzubringen.
Ich bin heute groß und kann meine eigenen Eltern sein, meine eigene Freundin und meine eigene Frau. Ich achte mich für meinen Weg und nehme nichts für selbstverständlich. Ich habe gelernt, daß das Leben größer ist, als meine Versuche, mich davor zu schützen, daß nicht wieder das Schlimme von früher passiert. Und vor allem glaube ich zutiefst, daß es das Leben gut mit mir meint und ich mit ihm zusammenwirke, wenn ich mich selbst wichtig nehme, meiner eigenen Wahrheit folge und meine Grenzen wahre. Diese Grenzen sind nicht starr, sie sind dehnbar, flexibel, aber nicht mehr von außen, weil man an mir ziehen oder bei mir einbrechen darf, sondern von innen, je nachdem, wie das Leben in mir mich fordert und wohin es wachsen mag.

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